Mesopotamien gehört neben Ägypten zu den ältesten Schriftkulturen. Die Keilschrift, die hauptsächlich auf Tontafeln überliefert ist, wurde gegen Ende des vierten Jahrtausends v. Chr. im südlichen Mesopotamien erfunden und blieb mehr als dreitausend Jahre lang in Gebrauch. Es handelt sich um einen Kulturraum, in dem sich bereits früh eine gesellschaftlich orga¬nisierte, systematische Weitergabe von zusammenhängendem Wissen feststellen lässt, denn mit der Schrifterfindung begann in Mesopotamien die gezielte Erfassung und Übermittlung verschrifteten Wissens. Die Vermittlung der Keilschrift und der damit verbundenen Wissens¬gebiete oblag umfassend ausgebildeten Schreibern, die über Spezialkenntnisse verfügten und den gesellschaftlichen Eliten angehörten. Im Laufe von dreitausend Jahren entstanden umfangreiche Sammlungen von Wissenstexten, die überwiegend im Kontext von Palast- und Tempelbibliotheken sowie Expertenhäusern gefunden wurden, was darauf hinweist, dass sowohl die Ausbildung der Gelehrten als auch die Ausübung ihrer Tätigkeiten in institutionellem Rahmen erfolgte. Die Texte gewähren Einblick in die Berufs- und Ausbildungs¬praxis der Keilschriftexperten und ermöglichen uns den Zugang zur Entwicklung wissenschaftlichen Denkens in Mesopotamien. Dabei gilt zu berücksichtigen, dass die Wissenskonzepte und ihre Vermittlung eng mit dem mesopotamischen Weltbild verbunden sind, das keine Trennung zwischen wissenschaftlicher und metaphysischer Ebene vollzieht. Abstrakte, wissenschaftstheoretische Texte sind nicht vorhanden. Die religiös-ideologische Eigenperspektive ist ebenso grundlegend zu beachten wie die kulturelle und gesellschaft-organisatorische Verortung mesopotamischer Wissensbereiche.
Die Studie, die sich mit keilschriftlichen Wissenstexten, schriftkundigen Experten und den Orten der Wissensakkumulation befasst, soll veranschaulichen, unter welchen Voraussetzun-gen sich die mesopotamischen Wissenskulturen bildeten, wer die Wissensträger waren und welche Erkenntnisprozesse und Instrumentarien bei der Herausbildung, Etablierung, Tra-dierung und Entwicklung von verschriftetem Wissen eine außergewöhnliche Rolle gespielt haben.
Das Forschungsprojekt ist ein Teilprojekt des Exzellenzclusters 243 "Die Herausbildung normativer Ordnungen", Forschungsfeld 2: Die Geschichtlichkeit normativer Ordnungen.