Vom Zustand des Menschen: Die Wissenschaft vom Menschen als Technik gesellschaftlicher Reorganisation im Konsulat

Ziel des Teilprojektes ist es, anhand von Fallbeispielen die Verbindung des florierenden Diskurses über Organisation der Gesellschaft in den Jahren des Direktorats und Konsulats, mit den Bestrebungen der Grundlegung einer Wissenschaft vom Menschen herauszuarbeiten. Dabei soll sowohl der Prozess der Produktion von Wissen im Rahmen der für die Anfertigung nationaler Statistiken notwendigen Feldforschung und Sammlung von Data als auch seine Reflexion und Systematisierung auf der Ebene der Ministerialbeamten und Staatsphilosophien untersucht werden. Im gewählten Untersuchungszeitraum von 1795 bis 1804 treffen exemplarisch das von unterschiedlichen Autoren des Institut national formulierte Projekt einer science sociale und das Projekt der Anthropologie der Société des observateurs de l'homme (SOH) aufeinander. Vor dem Hintergrund der Fragen und Anforderungen des Aufbaus eines funktionierenden Verwaltungsapparats und den Fragen nach politischer und wissenschaftlicher Repräsentation, werden Teilaspekte der Professionalisierung der Wissenschaften vom Menschen untersucht.

Diesem Verhältnis wird anhand von vier historischen Fallstudien nachgegangen, die exemplarisch die grundlegenden Erkenntnistechniken der Wissenschaft vom Menschen sowie ihre politische Dimension im Angesicht konkreter staatlicher Transformationsprozesse veranschaulichen sollen. Ein Ziel dieser Studie ist es, einige Bedingungen zu erörtern, anhand derer die Wissenschaft vom Menschen zum Modell der Restrukturierung des napoleonischen Staats werden konnte.

Fallstudien:

Departementalstatistik

Die erste Fallstudie des Teilprojekts umfasst die Versuche des Aufbaus eines staatlichen Informationssystems zur Zeit des Direktorats und die Gründung des ersten statistischen Büros während des Konsulats. Hier stellt sich die Frage nach den Techniken und Netzwerken von Akteuren, die Daten für dieses nationale Wissensprojekt sammelten. Die Idee ist hier, an einem Modellbeispiel die Wissensproduktion in der Peripherie, also in den neugeschaffenen Departements zu rekonstruieren. Hierbei wird die adunation, also das große Projekt einer Vereinheitlichung aller Bezugssysteme im revolutionären Frankreich als die Herstellung einer tabula rasa der Nation angesehen. Die neue Aufteilung des Raums und der Zeit, welche die Grundlage für die Produktion eines neuen auf dem Prinzip der nationalen Repräsentation errichteten Staates bildeten, wurde durch die statistischen Projekte konsolidiert. Die Statistik kann in diesem Rahmen als ein großes technisches System angesehen werden, das sowohl unter dem Aspekt der Verrechtlichung als auch in seiner politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Dimension betrachtet werden muss.

Um dieses System greifbar werden zu lassen und es mit dem Projekt der Wissenschaft vom Menschen in Verbindung zu bringen, sollen zwei Ebenen der Produktion von Statistik einander gegenübergestellt werden: zum einen die Akteure in der Peripherie der Departements und ihre spezifischen Praktiken der Sammlung und Ordnung. Diese soll an den vom Innenminister Chaptal als Musterbeschreibung eines Departements ausgegeben Statistiken des Prefekten Dupin aus dem Departement Deux-Sèvres geschehen. Zum anderen soll dies anhand der Praktiken im Zentrum geschehen, die um das Problem der Ordnung und des Vergleichs der verschiedenen in den Departements angefertigten Statistiken kreisten. Diese trat deutlich in der vom Observateur Joseph Marie Degérando moderierten Kontroverse um die Reorganisation des statistischen Büros in den Jahren 1805-1806 in den Blick, war jedoch von Beginn des Konsulats als Problem latent.

Reise ins Selbst/ Ethnographie Frankreichs

Neben den staatlichen Anstrengungen, Statistiken der einzelnen Departements anzufertigen und aus ihnen eine allgemeine Statistik Frankreichs zu formen, gab es ebenfalls private Untersuchungen der Bevölkerung und der häusliche Geschichte Frankreichs, welche sich in Inlandsreiseberichten niederschlugen. Am Beispiel des Observateurs Ramond de Carbonnières und Millin de Grandmaison kann dieses Interesse an der ländlichen Kultur und Archäologie Frankreichs nachgezeichnet werden und die Beziehung zu einer bestimmten Konzeption menschlicher Entwicklung hergestellt werden, die als Ressource einer bestimmten Vorstellung des Menschen mobilisiert werden konnte. Im Zentrum steht hier die Konstruktion von Fremdheit im Inneren, welche durch die nicht-städtische und widerständige bäuerliche Bevölkerung repräsentiert wird. Die Fallstudie soll im Medium der Inlandsreisen die Beziehung zwischen einem bestimmten Programm der Reorganisation der Gesellschaft und der Beschreibung des Menschen herstellen. Für die Konstruktionen einer kohärenten Geschichte Frankreichs im Sinne eines Volkes, die zwischen keltischen und romanischen Ursprüngen schwankten, waren diese Reisen ein wichtiges Mittel der Rechtfertigung.

Hygiene

Eine dritte Fallstudie bildet der Aufbau eines öffentlichen Gesundheitssystems in Frankreich im Zuge der Disziplinierung der Hygiene als Wissenschaft vom Menschen. Hierfür steht vor allem das Mitglied der SOH Jean-Noël Hallé, der erste Professor für Hygiene in Frankreich. In der Nachfolge der medizinischen Topographien des ancien regimes theoretisiert er den Gegenstand der Hygiene mit der Unterscheidung von öffentlicher und privater Hygiene. Hiermit wurde der traditionelle Gegenstand der Dietätik verdoppelt. Auch hier ist es das Ziel des Teilprojektes, die Beziehung zwischen den lokalen Techniken der Datensammlung und -ordnung mit den theoretischen Konzepten in Bezug zu setzen, die den Gegenstand der Hygiene in unterschiedlicher Weise als eine Wissenschaft vom Menschen definierten. Innerhalb der SOH lassen sich im Rahmen der Grundlegung der Hygiene zwei unterschiedliche Menschen-Konzepte nachzeichnen. Einerseits die Idee einer „Sprache der Natur“, die sich bei Hallé findet. Der Observateur Moreau de la Sarthe, seit 1799 Professor für Hygiene am Lycée republicain de Paris auf der anderen Seite sah die Grundlagen der Hygiene im Aufbau des menschlichen Körpers und der Struktur seiner Organe begründet.

Wissenschaft von den Zeichen

Eine vierte und letzte Fallstudie bildet die zur Zeit des Direktorats prominente Debatte um die Theorie der Zeichen, die vom Institut national im Zuge der Frage nach einer Erneuerung der politischen Sprache lanciert wurde. Anders als bei den drei vorherigen Beispiele handelt es sich hierbei zunächst vordergründig um eine rein philosophische Debatte. Für das Teilprojekt sind diese Debatten jedoch erst vor dem Hintergrund des Aufbaus einer funktionierenden nationalen Verwaltung und Bürokratie von Interesse. Die wissenschaftliche Autorität einer vernünftigen Verwaltung gründete sich wesentlich auf die begründete Einsicht in die Verstandesfunktionen des Menschen und die Prinzipien seines Lebens in Gesellschaft.

Gewinner des Preises des Institut national im Jahre 1799 war Joseph Marie Degérando, der im gleichen Jahr nicht bloß eine Anstellung am Innenministerium erhielt, sondern im Zuge der Redaktion seiner Preisschrift eine gewöhnlich als Gründungsdokument der teilnehmenden Beobachtung missverstandene Reiseinstruktion zur Menschenbeobachtung für die Reise Baudins nach Neu-Holland anfertigte. Die Debatten um und die konkurrierenden Konzepte von Zeichenordnungen mit konkreten Fragen der Verwaltung und der sozialen Organisation in Beziehung zu setzen, muss die Probleme und Ergebnisse der vorherigen drei Fallstudien auf der Ebene der im Pariser Zentrum produzierten Metaphysiken aufgreifen. Auf diese Weise sollen die unterschiedlichen konkreten Probleme und Hindernisse einer Wissenschaft vom Menschen innerhalb der von diesen Spuren bereinigten Metaphysiken selbst sichtbar werden.