Lehrveranstaltungen der Arbeitsgruppe Wissenschaftsgeschichte
Sommersemester 2019


Wissenschaftsgeschichte des Mittelalters bis zur Frühen Neuzeit (Vorlesung)

Studiengruppe Historische Epistemologie: Kontaktzonen des Wissens (Blockseminar)

Von der Sicht zum Licht: Das Auge und die Entwicklung der Optik von der Antike bis in die frühe Neuzeit (Seminar)

Koptische Lektüre: Koptische Kultur in ausgewählten Texten (Seminar)

Einführung in das Studium der neueren Geschichte: Naturgeschichte in der Frühen Neuzeit (Proseminar)

Lektüreübung: Vorgriechische Wissenschaften (Übung)

Globale Katastrophen im imperialen Kontext, 1870-1914 (Übung)

Gesellschaft als Experimentalform: Wissensgeschichte der sozialen Frage in Frankreich und Deutschland im 19. Jahrhundert (Übung)

Wissenschaftshistorisches Kolloquium


Wissenschaftsgeschichte des Mittelalters bis zur Frühen Neuzeit

Prof. Dr. Annette Warner

Vorlesung

Di 14:00-16:00, SH 3.108, ab 23.4.2019

Inhalt: Die wissenschaftliche Kultur der Antike fand ihre Fortsetzung zunächst weniger im lateinsprachigen Mittelalter als in der arabisch-islamischen Welt sowie in Indien und China, wo zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert eine bemerkenswerte Blüte der klassischen Wissenschaften zu verzeichnen ist. Von dort aus fanden ab etwa dem 11. Jahrhundert antike, islamische und auch fernöstliche Wissensbestände Eingang in die europäische Tradition, wo sie in Klöstern tradiert sowie an Fürstenhöfen und Universitäten studiert und gelehrt wurden. In der sog. Renaissance vollzog sich dann zunächst langsam, im 16. und 17. Jahrhundert jedoch in dramatischer Beschleunigung ein Aufschwung der „neuen Wissenschaften“ in Europa, der bald als wissenschaftliche Revolution gefeiert wurde. Zu ihr gehört nicht nur der Wechsel vom geo- zum heliozentrischen Weltbild, sondern auch die Entstehung neuer wissenschaftlicher Disziplinen (wie die Mechanik) und neuer Instrumente wie Fernrohr und Mikroskop, die zu einer Entwicklung der wissenschaftlichen Verfahrensweisen (wie z.B. einem vornehmlich experimentellen und erfahrungsbasierten Wissenserwerb) führen. Damit verknüpft war außerdem eine grundlegende Wandlung der sozialen Struktur der Wissenschaften. Neben die humanistischen Universitätsgelehrten traten Ingenieure, Architekten, Rechenmeister, Künstler und Forschungsreisende. Die in dieser Vorlesung beschriebene Wissensentwicklung bildet eine der wichtigsten Voraussetzungen des Aufstiegs Europas zur Weltmacht

Literatur:
* Daston, Lorraine/Park, Katharine: Wunder und die Ordnung der Natur 1150-1750. Frankfurt a. M.: Eichborn Verlag 2002.
* Lindberg, David C.: The Beginnings of Western Science: The European Scientific Tradition in Philosophical, Religious, and Institutional Context. Chicago: Chicago University Press 2008.
* Lindberg, David/Shank, Michael H.: The Cambridge History of Science. Bd. 2: Medieval Science. Cambridge: Cambridge University Press 2013.
* Rashed, Roshdi (Hrsg.): Encyclopedia of the History of Arabic Science, 3 Bde. London, New York: Routledge 1996.


Studiengruppe Historische Epistemologie: Kontaktzonen des Wissens

Prof. Dr. Moritz Epple, Dr. des Linda Richter

Blockseminar in Riezlern im Kleinwalsertal

Anreise: 14.7.2019, Abreise: 19.7.2019

Obligatorische Vorbesprechung: Mittwoch 23.4.2019, 16:00-18:00, IG 4.401

Voraussetzungen: Wir bitten um persönliche Anmeldung bei den Dozenten. Voraussetzung für die Teilnahme am Kompaktseminar ist die Bereitschaft zum selbständigen Erarbeiten eines Referatsthemas sowie die Lektüre des gemeinsam mit den Teilnehmenden zusammengestellten Seminarreaders im Vorfeld der Blockveranstaltung.
Die Reise- und Aufenthaltskosten werden vom Historischen Seminar bezuschusst.

Inhalt: In mehreren Hinsichten wurden in den letzten Jahrzehnten theoretische Konzepte für eine Geschichte des Wissens und der Wissenschaften vorgeschlagen, die traditionelle Asymmetrien zwischen den Elfenbeintürmen der Wissenschaft und den unterschiedlichen, breiten Feldern von Praktiken des Wissens brechen sollen. So wurde im Zusammenhang der Untersuchung der Rolle von Wissenschaften in imperialen Kontexten eingefordert, sich von dem lange üblichen Modell der Entgegensetzung von „Zentrum“ und „Peripherie“ zu lösen, um „Kontaktzonen“, „borderlands“ oder „go-betweens“ zwischen verschiedenen Wissenstraditionen zu analysieren. In einer Untersuchung der sozialen und praktischen Schichtung von Wissensformen wiederum wurde nach den „trading zones“ etwa von handwerklich-technischem und theoretisch-wissenschaftlichem Wissen gefragt, oder die „boundary objects“ analysiert, welche die Grenzen zwischen verschiedenen Wissensformen überschreiten und diese zugleich prägen. Es geht um mal mehr, mal weniger konkrete Orte, an denen sich als verschieden wahrgenommene Träger und Formen von Wissen begegnen und in Austausch miteinander treten.
Das Kompaktseminar der Studiengruppe Historische Epistemologie wird diese theoretischen Vorschläge einander gegenüberstellen und an einer Reihe von empirischen Fallstudien überprüfen, die nach den Interessen der Teilnehmenden aus unterschiedlichen Wissensfeldern, historischen Epochen und regionalen Kontexten ausgewählt werden. Dabei soll der Blick ebenso auf die regionalen und kolonialen Interaktionen wie auf die vertikalen Schichtungen wissenschaftlichen Wissens gerichtet werden.

Literatur: 
* Fa-Ti Fan: British Naturalists in Qing China: Science, Empire, and Cultural Encounter. Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 2004.
* Fa-Ti Fan: „Science in Cultural Borderlands: Methodological Reflections on the Study of Science, European Imperialism, and Cultural Encounter.“ East Asian Science, Technology and Society (2007) 1 (2): 213–231.
* Peter Galison: Image and Logic: A Material Culture of Microphysics. Chicago, Illinois: University of Chicago Press, 1997.
* Thomas Gieryn: „Boundary-Work and the Demarcation of Science from Non-Science: Strains and Interests in Professional Ideologies of Scientists.“ American Sociological Review 48/6 (1983), 781–795.
* Thomas F. Gieryn: Cultural Boundaries of Science: Credibility on the Line. Chicago: University of Chicago Press, 1999.
* Mary Louise Pratt: „Arts of the Contact Zone.“ Profession 91 (1991), 33–40.
* Mary Louise Pratt: Imperial Eyes: Travel Writing and Transculturation. London: Routledge. 1992.
* Simon Schaffer, Lissa Roberts, Kapil Raj und James Delbourgo (Hrsg.): The Brokered World. Go-Betweens and Global Intelligence, 1770–1820. Sagamore Beach: Science History Publications, 2009.
* Susan Leigh Star und James R. Griesemer: „Institutional Ecology, ‚Translations‘ and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology, 1907-39.“ Social Studies of Science 19/4 (1989), 387–420.
* Nicholas Thomas: Entangled Objects: Exchange, Material Culture, and Colonialism in the Pacific. Cambridge, MA: Harvard University Press, 1991.


Von der Sicht zum Licht: Das Auge und die Entwicklung der Optik von der Antike bis in die frühe Neuzeit

Prof. Dr. Annette Warner

Seminar

Do 14:00-16:00, SH 0.108, ab 25.4.2019

Inhalt: „Die Untersuchung des Lichts hat zu Leistungen der Erkenntnis, Phantasie und Erfindungsgabe geführt, die auf keinem Gebiet geistiger Betätigung übertroffen wurden. Sie zeigt auch besser als jede andere Disziplin in der Physik, wie wechselhaft das Schicksal von Theorien sein kann“ (J.J. Thomson, zitiert nach Zajonc 1994: 272).
Bereits die bildlichen Quellen aus dem pharaonischen Ägypten zeigen eine Auseinandersetzung mit der Idee des Sehens und der Darstellung dessen, was gesehen wird. In der klassischen Antike beschäftigt sich die Optik zunächst mit der Analyse des Sehens, spätestens mit Aristoteles wird diese Analyse in der Theorie der Sehstrahlen mathematisiert. Im weiteren Verlauf der Geschichte verschiebt sich der Fokus der Beschäftigung dann aber zum Thema „Licht“ und seinen grundlegenden Eigenschaften wie Reflexion, Refraktion (Brechung) und Diffraktion (Beugung). In der weiteren Entwicklung werden die Wissensgegenstände des „Sehens“ und des „Lichtes“ in der Optik zusammen gedacht und aufeinander bezogen, wie z.B. im Werk des islamischen Gelehrten Ibn al-Haitam. Das Seminar verfolgt diese Entwicklung anhand von ausgewählten Quellen(texten) beginnend mit den ersten Darstellungen in Ägypten bis zur Dioptrice von Johannes Kepler.
Von jedem Teilnehmer wird erwartet zu jeder Stunde ca. 20-30 Seiten Quellentexte (in englischer oder deutscher Übersetzung) zu lesen und in ein Thema aus dem Seminar in Form eines Referates (30 Minuten) einzuführen.

Literatur: 
* A. Mark Smith: From Sight to Light. The Passage from Ancient to Modern Optics. Chicago und London: University of Chicago Press 2015.
* A. Zajonc: Die gemeinsame Geschichte von Licht und Bewusstsein. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001.


Koptische Lektüre: Koptische Kultur in ausgewählten Texten

Prof. Dr. Annette Warner

Seminar

Do 16:00 - 18:00, SH 1.102, ab 25.4.2019

Voraussetzungen: Erfolgreiche Teilnahme an der Übung: Einführung in das Koptische (Sahidischer Dialekt).

Inhalt: In diesem Seminar soll anhand der Lektüre von koptischen Quellentexten ein Einblick in die Lebenswelt der altägyptischen Bevölkerung zur Zeit des römischen Reichs gegeben werden. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf den christlichen Texten von und über die ägyptischen Anachoreten. Daneben werden aber auch nicht-christliche Texte, wie z.B. Zaubertexte und andere wissenschaftliche Texte, gelesen, sowie eine Auswahl von Texten aus der Nag Hammadi Bibliothek.

Literatur:
* Wolfgang Boochs: Geschichte und Geist der koptischen Kirche. Aachen: Bernardus 2009.
* Christian Cannuyer: Coptic Egypt : The Christians of the Nile. London: Thames & Hudson 2001.
* Martin Krause (Hrsg.): Ägypten in spätantik-christlicher Zeit : eine Einführung in die koptische Kultur. Wiesbaden: Reichert 1998.
* Birger A. Pearson und James E. Goehring (Hrsg.): The Roots of Egyptian Christianity. Philadelphia: Fortress Press 1992.


Einführung in das Studium der neueren Geschichte: Naturgeschichte in der Frühen Neuzeit

Dr. des Linda Richter

Proseminar

Do 10:00-13:00, IG 4.401, ab 25.4.2019

Inhalt: Ziel dieses Proseminars ist es, den Studentinnen und Studenten mit dem historischen Wissens­modus der Naturgeschichte bekannt zu machen und an dessen Beispiel in die Methoden der Neueren Geschichte einzuführen. Epochaler Schwerpunkt sind das 17. und 18. Jahrhundert, als naturhistorische Beobachtungen und Sammlungen Teil kolonialer europäischer Expansion wurden. Deshalb eignet sich diese Zeit besonders gut, um ökonomische, politische, soziale und wissenschaftliche Dimensionen der Naturgeschichte sowie analoge Schwerpunkte in der Historiographie betrachten und diskutieren. Damit einher ging eine große Vielzahl von Akteuren (Zeichner, Patrone, Forschungsreisende, indigene Informanten, …) und Institutionen (Museen, Sammlungen, …), die in die Wissensproduktion involviert, in den Quellen aber in sehr unterschiedlichem Maße sichtbar werden.
Durch die Lektüre von Überblicksartikeln und exemplarischen Quellen sollen das wissenschaftliche Lesen und die Quellenkritik zunächst gemeinsam geübt werden. Übungen, die über den Verlauf des Semesters verteilt sind (z. B. Quellenrecherche, Exzerpte, Bibliographien), dienen der Vorbereitung der Hausarbeit, die das Proseminar abschließt.

Literatur:
* Jardine, Nicholas/Secord, Jim A./Spary, Emma C., Cultures of Natural History. Cambridge u. a. 1995.
* Miller, David Philipp (Hg.), Visions of Empire. Voyages, Botany, and Representations of Nature. Cambridge u. a. 1996.
* Schiebinger, Londa (Hg.), Colonial Botany. Science, Commerce, and Politics in the Early Modern World. Philadelphia 2005.


Lektüreübung: Vorgriechische Wissenschaften

Prof. Dr. Annette Warner, Dr. Daliah Bawanypeck

Übung

Mi 10:00-12:00, SH 1.102, ab 24.4.2019

Inhalt: Die vorgriechischen wissenschaftlichen Texte stellen aufgrund ihrer Form und ihrer Konzeptualisierung der Welt eine besondere Herausforderung in der Wissenschaftsgeschichte dar. Aufgrund der grundlegend anderen Weltvorstellungen wurde Wissen anders kategorisiert, kommentiert und konzeptualisiert. Dabei spielt z.B. die Rolle der Kommunikation mit den Göttern eine wichtige Rolle: Nach mesopotamischer Weltvorstellung wurde das Geschehen auf der Erde von den Göttern bestimmt, die in einer längst entrückten Zeit die Schrift und die mit der Schreibkunst verbundenen Wissensgebiete an ausgewählte Menschen weitergegeben hatten. In Ägypten dagegen war die Bewältigung des Weiterlebens nach dem Tod im Jenseits ein zentrales Element der Aufgabe der Gelehrten. Daher enthalten viele altägyptische und mesopotamische Wissenstexte religiöse bzw. magische Bezüge.
Welche Möglichkeiten und Hilfsmittel hat ein moderner Leser, um diese Texte heute zu verstehen? Nach einer Einführung in die Wissenschaftsgeschichte der altägyptischen und mesopotamischen Wissenschaften anhand einschlägiger Sekundärtexte werden in dieser Lektüreübung ausgewählte Texte aus verschiedenen Bereichen der altägyptischen und mesopotamischen Gelehrsamkeit gelesen und besprochen.
Von jedem Teilnehmer wird erwartet zu jeder Stunde ca. 20-30 Seiten Quellentexte (in englischer oder deutscher Übersetzung) zu lesen.

Literatur:
* Annette Imhausen und Tanja Pommerening (Hrsg.): Translating Writings of Early Scholars in the Ancient Near East, Egypt, Greece and Rome. Methodological Aspects with Examples. Berlin/Boston: de Gruyter 2016.
* Francesca Rochberg: Before Nature. Cuneiform Knowledge and the History of Science. Chicago: University of Chicago Press 2016.
* David Warburton: „Egypt’s Role in the Origins of Science: An Essay in Aligning Conditions, Evidence, and Interpretations“. Journal of Ancient Egyptian Interconnections 9 (2016): 72-94.


Globale Katastrophen im imperialen Kontext, 1870-1914

Dr. des Linda Richter, Dr. des Daniel Hausmann

Übung

Mo 16:00-18:00, SH 0.108, ab 29.4.2019

Inhalt: Dieses Seminar beschäftigt sich mit globalen Katastrophen in der Zeit von 1870 bis 1914 – einer Zeit des verstärkten imperialistischen Konkurrenzkampfes und einer intensivierten Kolonialisierung. Im Zentrum steht der Zusammenhang zwischen Natur, Gesellschaften und Verantwortung in einer sich stets globalisierenden Welt. Angesichts der stets wachsenden Sorgen um die Folgen des Klimawandels ist die allgemeine Relevanz dieses Themas offensichtlich. Wir wollen aber insbesondere darauf aufmerksam machen, dass sich in der hier abgedeckten Periode eine Dynamik durchsetzte, die bis heute und wahrscheinlich auch in Zukunft von ausschlaggebender Bedeutung war, ist und sein wird. Umweltkatastrophen betrafen und betreffen hauptsächlich ohnehin benachteiligte Regionen und Menschengruppen. Hunger war seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kein Problem Europas, aber dafür umso mehr eines Indiens, Afrikas und Chinas. Letztere waren entweder direkt als Kolonien unterworfen oder wurden in einem System von ökonomischen Abhängigkeiten immer weiter ausgebeutet. Epidemien wie Cholera und die Pest plagten im ausgehenden 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert vor allem Gesellschaften (oder Gesellschaftsschichten) mit schlechter Hygiene oder solchen, die keinen Zugang zu guter medizinischer Behandlung hatten, wie zum Beispiel Unterschichten in Hamburg, Menschen im Senegal oder in asiatischen Küstenstädten.
Neben einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen, vor allem in Hinsicht der Frage nach der Verantwortung, hat dieses Seminar folgende Lernziele: Erstens sollen kurze Referate gehalten werden, voraussichtlich in Gruppen; zweitens konzentriert sich die Lektüre, vor allem in der zweiten Hälfte, auf ausgewählte Quellen; drittens wird systematisch vorgestellt, wie eine Hausarbeit effizient und erfolgreich geschrieben werden kann.

Literatur:
* John Iliffe, Geschichte Afrikas, 2. Auflage, München 2000.
* Eric Hobsbawm, Das imperiale Zeitalter, 1875-1914, Frankfurt/M. u. a. 2008.


Gesellschaft als Experimentalform: Wissensgeschichte der sozialen Frage in Frankreich und Deutschland im 19. Jahrhundert

Dr. des Martin Herrnstadt

Übung

Fr 10:00-12:00, IG 4.401, ab 26.4.2019

Inhalt: Am Beispiel verschiedener Projekte zur Erforschung neuer sozialer Formen in Frankreich und Deutschland während des 19. Jahrhunderts führt die Übung in die Wissensgeschichte der Ökonomie und Sozialwissenschaften ein. Dabei steht die sprichwörtliche soziale Frage im Vordergrund, die der technologische und ökonomische Wandel der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts in Frankreich und Deutschland auf die Tagesordnung setzte. Die Übung nimmt sich die Wissensgeschichte der sozialen Frage von zwei Seiten vor. Einerseits als Wissensproblem, d.h. als Problem der Beschreibung sozialer Wirklichkeit und der Arbeit an einem wissenschaftlichen Begriff des Sozialen, um dessen Definition u.a. die Wissensfelder der Moralwissenschaft, der Staatswissenschaft, der Science social und der entstehenden Soziologie konkurrierten. Andererseits als politisches Problem, als aktives Experimentieren mit und Ringen um sozialen Formen, wie sie im Aufbau um kooperative, solidarischen und fürsorglichen Strukturen, den Debatten über soziale Gesetze oder aber dem Kampf von Arbeitern und Frauen um ihre konkrete soziale Existenz zum Ausdruck kam. Dabei weitet das Seminar den Blick auf die koloniale und imperiale Dimension des Experimentierens mit sozialen Formen aus. Die großen kolonialen Siedlungsprojekte, wie z.B. Frankreichs Expansion nach Nordafrika, waren immer auch als « soziale Experimente » konzipiert, mit deren Hilfe die Heimatgesellschaft reformiert oder erneuert werden sollte.
Arbeitsmaterialien der Übung sind Quellentexte der Wissensgeschichte der sozialen Frage und Sozialpolitik (u.a. Saint-Simon, Fourier, Comte, Marx, von Stein, Schmoller), Texte zu administrativen Techniken der Gesellschaftsbeschreibung (Statistik, Sozialenquête) sowie konkrete historische Fallbeispiele.

Literatur:
* Abi-Mershed, Osama W. (2010), Apostles of Modernity: Saint-Simonians and the civilizing mission in Algeria. Stanford, California.
* Castel, Robert (2000), Die Metamorphosen der sozialen Frage: Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz.
* Donzelot, Jacques (1980), Die Ordnung der Familie. Frankfurt am Main.
* Ewald, François und Beck, Ulrich (2015), Der Vorsorgestaat. Frankfurt am Main.
* Heilbron, Johann (1995) : The Rise of Social Theory. Minneapolis.
* Lepenies, Wolf (2006), Die drei Kulturen: Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. Frankfurt am Main.
* Neef, Katharina (2012), Die Entstehung der Soziologie aus der Sozialreform: Eine Fachgeschichte, Frankfurt am Main.
* Porter/ Ross (Hg.) (2003) : The Modern Social Sciences, Cambridge.
* Stedman Jones, Gareth (2012), An End to Poverty?: A Historical Debate, New York.
* Stolleis, Michael (2003), Geschichte des Sozialrechts in Deutschland: Ein Grundriß, Stuttgart.


Wissenschaftshistorisches Kolloquium

Prof. Dr. Annette Warner, Prof. Dr. Moritz Epple

Kolloquium

Di 18:00 - 20:00, IG 1.414 oder IG 4.401, ab 23.4.2019

Inhalt: Fortgeschrittene Studierende und Doktoranden aller Fächer. Es werden zum einen laufende Examens- und Doktorarbeiten vorgestellt, zum anderen neuere wissenschaftshistorische Publikationen gemeinsam diskutiert. Teilnehmerinnen und Teilnehmer (auch aus angrenzenden Gebieten) sind nach Rücksprache mit den Veranstaltern herzlich willkommen. Zu Vortragsveranstaltungen mit auswärtigen Gästen sind alle Interessierten herzlich eingeladen. Wissenschaftshistorische Vorkenntnisse und persönliche Anmeldung sind erforderlich.

Programm



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zuletzt geändert am 16.4.2019, jd